"Menschenrechte in der Ukraine: Zur aktuellen Situation"

Bericht über eine Veranstaltung in Moskau
15.12.2015
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Dr. Achim Kessler & Wolfgang Gehrcke

18. November 2015, Haus des Journalisten, Moskau

Mein besonderer Dank geht an dieser Stelle an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau für die Unterstützung und Begleitung der Veranstaltung.

Unter Beteiligung der Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko und weiterer 80 Personen fand am 18. November in Moskau ein internationales Rundtischgespräch zur Menschenrechtssituation in der Ukraine statt. Er wurde von der Vereinigung der Politemigranten und politischen Häftlinge der Ukraine (VPPU) sowie dem Moskauer Journalistenverband organisiert und durch das Moskauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt. Die VPPU wurde im Frühling 2015 gegründet. Ihre Präsidentin, Frau Larisa Schesler, betonte, dass es sich bei der Organisation um eine Vereinigung von Personen handele, die wegen politischer Repressionen die Ukraine verlassen mussten und sich nun in der Russischen Föderation aufhalten. Das politische Spektrum reiche von Marxisten bis hin zu Monarchisten, die Mehrzahl der Mitglieder ordne sich jedoch selbst als unpolitisch ein. Seit 2014 sind 2,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Ukraine nach Russland geflüchtet. Hunderttausende von ihnen beantragten politisches Asyl. Meinungsverschiedenheiten herrschen über den rechtlichen Status dieser Personen in Russland und ihre Schwierigkeiten. Es sei bisher kaum einer der politischen Flüchtlinge als solcher anerkannt worden, die meisten würden unter dem Aufenthaltstitel „vorübergehendes Asyl“ geduldet. VPPU sei die einzige Organisation, die sich um die Koordination und Vereinigung ukrainischer Flüchtlinge und Emigranten in Russland bemühe.

Über die Hälfte der Redebeiträge wurde von Mitgliedern der Vereinigung bestritten, die von dieser allein aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen mit Repressionen ausgewählt wurden. Ziel der Veranstaltung war es, den Bundestagsabgeordneten möglichst aus erster Hand Informationen über Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine zur Kenntnis zu bringen. Thematisch war das Rundtischgespräch dreigegliedert: «Über Journalisten und die Meinungsfreiheit», «Über das Strafvollzugssystem und die Tätigkeit nationalistischer Gruppierungen », «Über die Einhaltung von Menschenrechten und die Tätigkeit von Menschenrechtsorganisationen».

Drei Personen sprachen über ihre persönlichen Schicksale: Vitalij Skorochodov, Aktivist, Journalist und Arzt war durch Rechtsradikale verfolgt worden und fand sich in der Liste der sogenannten „Feinde der Nation“ auf der berüchtigten Website „Mirotvorez“ (Friedensstifter) – genauso wie die später ermordeten Olesj Busina und Oleg Kalaschnikov. Der Abgeordnete aus Nikolaev Nikolaj Maschkin und der Prorektor der Slawischen Universität aus Charkow Alexej Samojlov wurden unter fadenscheinigen Gründen inhaftiert und später gegen Häftlinge der Gegenseite ausgetauscht. In diesem Zusammenhang wurde über zwei weitere bekannte Fälle berichtet: Die Festhaltung des Journalisten und Pazifisten Ruslan Kozaba und den Redakteur der Zeitung „Die Arbeiterklasse“ Aleksandr Bondartschuk. In anderen Beiträgen wurde geschildert, wie politische Häftlinge in illegalen Geheimgefängnissen festgehalten werden. Als Anlass für eine Festnahme genüge ein Telefongespräch, die Beteiligung an einer öffentlichen Aktion oder eine Meinungsäußerung im Internet. Nach Angaben des Direktors der ukrainischen Filiale des Instituts der GUS-Länder, Denis Denisov, beträgt die Zahl der aus politischen Motiven festgenommenen Bürger in der Ukraine etwa 5.000 Personen. Nach Angaben des Stellvertretenden Leiters des Ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU Lubkivskij werde in der Ukraine in mehr als 4000 Fälle wegen „Verbrechen gegen den Staat“ ermittelt.

Georgij Fjodorov, Mitglied der russischen Gesellschaftlichen Kammer (OP RF), informierte, dass bei der von ihm gegründeten Organisation „Recht gegen Faschismus“ Hunderte Anträge von Betroffenen während der Kriegshandlungen in Donezk und Lugansk sowie im Zuge der Repressionen in anderen Regionen der Ukraine eingegangen sind. Gegenwärtig lägen dort über 600 Klagen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vor, darunter aus Odessa, Charkow, Dnepropetrowsk. Gegenstand der Klagen bilden ungesetzliche Festnahmen, Folter, Mord, Entführungen, Vermögensverlust. Von anderen Rednern wurde auch die Notwendigkeit unterstrichen, dafür einzutreten, dass politische Häftlinge getrennt von Kriminellen verwahrt werden, für den freien Zutritt von Menschenrechtlern in Gefängnisse, gegen illegale Unterschlüpfe für entführte Personen und für eine Stärkung von Ehrenamts- und Menschenrechtsinitiativen. In einer Erklärung von heutigen politischen Häftlingen in der Ukraine, die überraschend von einem Journalisten des Portals ukraina.ru verlesen wurden, fordern diese, dass ihnen die Rechte politischer Häftlinge zugestanden werden und verwiesen auf Folter sowie auf grobe Verletzungen der Normen bezüglich der Umstände und Dauer von Festsetzungen.

Im „Westen“ im Wesentlichen übersehen, stand die Flüchtlingsproblematik im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt im Mittelpunkt der Veranstaltung. Auch in Russland müssen solche Probleme und Fragen wie staatsbürgerliche Rechte, Arbeitsmöglichkeiten, Rechtsstellung von Flüchtlingen geklärt werden. Das Seminar hat ein „unentdecktes“ Thema öffentlich gemacht. Andrej Hunko und ich werden dieses Thema weiter verfolgen.