Zündet ein Licht an in der Finsternis

24.06.2016
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Wolfgang Gehrcke, Diether Dehm

Über Freude, Kummer und Scham nach der vereinbarten Debatte im Deutschen Bundestag zum 75. Jahrestag des Überfalls des faschistischen Deutschlands auf die Sowjetunion.

Monatelang hatte die Fraktion DIE LINKE im Bundestag darum gekämpft, dass der Bundestag durch seinen Präsidenten oder die Bundesregierung selbst zu einer Gedenkveranstaltung aus diesem Anlass einlädt. Herausgekommen ist eine Vereinbarte Debatte, die von der LINKEN durchgesetzt werden konnte. Wir wollen diese Debatte reflektieren, da wir zeitweilig verunsichert waren, ob der Debattenverlauf überhaupt diesen Einsatz rechtfertigte. Unsere eigene Verunsicherung haben wir uns hier von der Seele geschrieben.

Für die Fraktion DIE LINKE und für uns beide war der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion der tiefste Einschnitt in der deutschen, russischen und europäischen Politik. Es war ein Raub- und Vernichtungskrieg, darauf ausgerichtet die Sowjetunion auszurauben und möglichst viele Menschen unter die Zwangsarbeitsmaschine des deutschen Großkapitals zu zwingen oder umzubringen: Sie sollten verhungern, erschlagen, von Mordkommandos erschossen, vergast und vertrieben werden. Jede Mordtechnik wurde benutzt. 30 bis 50 Millionen Menschen sollten verschwinden. Verschwinden sollten besonders jüdische Bürgerinnen und Bürger, Kommunistinnen und Kommunisten. Mit der faschistischen Rassenideologie sollten alle Menschen eliminiert werden, die als Untermenschen definiert waren. Verschwinden und umgebracht werden sollten laut „Kommissarbefehl“ all‘ die, die von den Nazis der „jüdisch-bolschewistischen Verschwörung“ zugeordnet wurden. Das Andenken an die deutsche Verantwortung wachzurufen und sich dafür zu schämen, dass bis 1985 (Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker) noch nicht einmal der Begriff Befreiung für den Kampf der Roten Armee in der alten Bundesrepublik benutzt wurde oder benutzt werden sollte. Wir wollten, dass wir uns gemeinsam schämen, auch für unser Wegschauen und für unsere Schwäche.

Ebenso beschämend ist, dass ohne den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in Deutschland West keine Nazi-Verbrecher vor Gericht gekommen wären. Das heißt, dass KZ-Mörder und Erschießungskommandos der Wehrmacht straffrei blieben. Schämen sollten sich auch die, die trickreich bewirkt haben, dass erst in den vergangenen Jahren Zwangsarbeiter entschädigt wurden und jetzt erst die wenigen Überlebenden aus den Kriegsgefangenenlagern eine geringe Unterstützung erhalten; es gab und gäbe so viel, was hätte angesprochen werden müssen und was verschwiegen blieb. Richard von Weizsäcker sprach bereits 1985 davon: „Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Inneren wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.“ Entsprechend dieses Maßstabes haben wir auf uns selbst und auf die Debatte geblickt. Es war fast ausschließlich Gregor Gysi, der in seiner Rede auf Einiges aufmerksam gemacht hat. „Was sollen diese Gebärden des Westens? Wenn sich die Russen eingekreist fühlen, reagieren sie äußerst nervös. Den für sie überraschenden Überfall durch Hitler-Deutschland haben sie bis heute nicht vergessen. Bringt das militärische Gebaren der NATO uns dem Frieden und der Sicherheit in Europa nur einen Schritt näher, hilft das der Ukraine? Nein, im Gegenteil.“

Das Verhältnis Deutschland/Russland - es wurde so schlecht wie zu keinem anderen Zeitpunkt nach der deutschen Vereinigung oder gar nach 1945. Selbst der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, mahnt: Die NATO müsse sich mäßigen. Und warnt davor, dass „weitere Eskalationsschritte zu militärischen Kampfhandlungen werden können“. Der Ex-Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat, fordert, Vertrauen wieder herzustellen und zu meiner Freude spricht auch der Russlandbeauftrage der Bundesregierung, der bislang beredt geschwiegen hat, Gernot Erler (SPD), „von einer Eskalation des Streits bis hin zum Krieg“.

Gemessen an der Dramatik der Situation war der Verlauf der Debatte über weite Strecken empörend. Kein Redner, auch keiner der SPD, fand die Kraft und den Mut zu fordern: Schluss mit den Sanktionen gegen Russland. Moralisierend plätscherte die Rede des Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier vor sich hin, der kurz zuvor noch vor „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ der Nato gewarnt hatte. Vom „Die Welt“-Kommentator Herzinger war er daraufhin heftig angegriffen worden: „Dass ein deutscher Außenminister nun aber sogar dem gesamten westlichen Verteidigungsbündnis in den Rücken fällt, indem er es wegen dringend nötiger Übungen, an denen auch die Bundeswehr teilnimmt, mit Kriegslüsternheit in Verbindung bringt, ist ein beispielloser Akt von Illoyalität.“ Wir hätten erwartet, dass der Außenminister seine eigenen Aussagen verteidigt. Doch ein völlig anderer Steinmeier stand am Rednerpult des Bundestages – ein trauriges Beispiel sozialdemokratischer Doppelstrategie. In der Berichterstattung (ARD-Sendung Panorama am 23. Juni2016 - http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2016/Saebelrasseln-NATO-rueckt-an-russische-Grenze-vor-,nato216.html ) war hämisch zu lesen: „Lange haben Steinmeier und Merkel die NATO-Politik, die auf Schwächung und Einkreisung Russlands abzielte, gedankenlos mitgetragen. Jetzt ist das Geheul groß: Wie kommen wir bloß von dem Baum wieder runter, auf den wir raufgeklettert sind?“ Wenn es notwendig ist, stellt die LINKE die Leiter zum Abstieg von diesem Baum auf und wird sie stützen. Des Außenministers Fraktionskollege Franz Thönnes warb zwar für eine gemeinsame Sicherheitspolitik von Wladiwostok bis Lissabon – „Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, heißt, das nun wirklich in Angriff zu nehmen und gemeinsam umzusetzen, was die Bundeskanzlerin mit den Präsidenten Frankreichs, Russlands und der Ukraine in Minsk im Februar 2015 unterschrieben hat: >Die Staats- und Regierungschefs bekennen sich unverändert zur Vision eines gemeinsamen humanitären und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik bis zum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränkten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipien der OSZE.<“ - verlor aber kein Wort über die Notwendigkeit der Aufhebung der Sanktionen.

Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der CDU, verurteilte die russische Politik, als ob die vereinbarte Debatte des Bundestages ein Tribunal gegen Russland sei. „Wir haben unter den Völkern der Sowjetunion Konflikte wie zum Beispiel den Konflikt Russlands mit der Ukraine, den Konflikt Russlands mit Georgien, den Konflikt Armeniens mit Aserbaidschan. Über andere Dinge möchte ich hier nicht weiter reden. Das ist eine Belastung nicht nur für die Menschen im Osten Europas, sondern auch für Europa insgesamt.“ Wer Jürgen Hardt hört, vermisst den verstorbeben Phillip Mißfelder erst recht. Einzige Ausnahme in den CDU-Reihen, der CSU-Abgeordnete Alois Karl, der Fakten benannte und eine Vorstellung zur Verbesserung der deutsch-russischen Beziehungen hatte. „(…) Dauerhafte Ankerpunkte unserer Politik sind die Freundschaften mit den früheren Gegnern und Feinden. In den letzten 70 Jahren ist dies in Deutschland in der Tat Gegenstand der Politik gewesen. Es war bzw. ist das Credo der Politik von Konrad Adenauer, von Willy Brandt, von Helmut Kohl und von Angela Merkel, dass wir aus diesen schlimmen Auseinandersetzungen und Niederungen vor 75 Jahren unsere Schlüsse gezogen haben.

Nach der Rede der Grünen-Abgeordneten Marie-Luise Beck schien ein Aufatmen durch die Reihen der Bundestagsabgeordneten zu gehen, es hätte alles noch viel schlechter kommen können, so die Reaktion vieler. Frau Beck - und andere der Grünen mit ihrem schlecht verhohlenen Russland-Hass - hatte uns vor einigen Monaten dazu gebracht, einige Grüne als rechten Rand des Bundestages zu bezeichnen.

Zu Frau Motschmann, CDU, fällt uns absolut nichts ein. Wir haben auch vergessen, was sie gesagt hat. Und Bernhard Kastner, CDU, war hin und her gerissen als Vorsitzender der deutsch-russischen Parlamentariergruppe und in seiner Einbindung in die aggressive Grundlinie christdemokratischer Russlandpolitik.

Unsere Blicke schweiften weg vom Rednerpodium zur Ehrentribüne des Bundestages. Wir sahen dort den russischen Botschafter Wladimir Grinin sitzen und schlagartig vergrößert sich bei uns die Scham über die teilweise würdelose Veranstaltung. Alles in Allem eine vertane Chance, die deutsch-russischen Beziehungen wenigstens ein wenig zu verbessern. Wir lesen gemeinsam nach der Debatte im Bundestag und nach unserem Besuch am sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten die letzte Rede von Egon Bahr. Wie groß und weitsichtig war einmal die deutsche Außenpolitik, Ostpolitik der SPD. Und was ist davon geblieben? Wir schauen uns alte Reden von CDU-Politikern an - die große Rede von Ex-Bundespräsident von Richard von Weizsäcker bei der Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa am 8. Mai 1985: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Beachtenswert ist auch die Rede des Ex-CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler, der die Freundschaft zwischen Kohl und Gorbatschow verteidigte und darüber sprach, dass diese Freundschaft eine gute Alternative zu einer Politik der gegenseitigen Raketen-Bedrohung gewesen sei. Wenn man dies mit den heutigen Positionen vergleicht, kommt man nur zur Schlussfolgerung: Mene mene tekel – geschätzt, gewogen und zu leicht befunden.