Für Frieden ist Russland Partner, nicht Gegner

18.11.2018
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Wolfgang Gehrcke & Christiane Reymann

Nachfolgend unser Beitrag zum „Dialog an der Wolga“, einem politisch breit angelegten Treffen zur Diskussion über Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit, zu dem die Stadt Wolgogradin den ersten Novembertagen eingeladen hatte:

Nicht nur, dass sich die NATO im Bruch aller Zusagen von 1989 an die Westgrenze Russlands ausgedehnt hat, nicht nur, dass die NATO-Staaten derzeit absurde Summen für Rüstung verpulvern; jetzt entsteht der erste NATO-Luftwaffenübungsplatz in Litauen, nur 60 km von der russischen Grenze entfernt, die USA planen eine „Space Force“ für ihren Krieg der Sterne und Verteidigungsministerin von der Leyen fordert in deutscher Vermessenheit, mit Russland nur aus der „Position der Stärke“ zu reden, zumal „die östlichen Nachbarn Schutz vor Russland erwarten.“ Die Antwort ihres russischen Kollegen im Amt, Sergej Schoigu: „Nach allem, was Deutschland unserem Land angetan hat, sollten Sie meines Erachtens noch 200 Jahre lang nichts zu diesem Thema sagen. Ich will nicht grob oder unhöflich sein, aber ich nehme an, Sie verstehen mich.“ Sein Rat an von der Leyen, sie solle ihre Großväter befragen, „was es bedeutet, mit Russland aus einer Position der Stärke zu sprechen. Sie werden es Ihnen wahrscheinlich sagen können.“ Der Westen verhält sich gegenüber Russland arrogant und er rüstet mächtig auf. Dieses Spiel mit dem Feuer will und will einfach nicht aufhören! Und es ist kein Spiel.

Wie zu Israel, so auch ein besonderes Verhältnis zu Russland

Es liegt in der deutschen Verantwortung, dass die deutsch-russischen Beziehungen so schlecht sind wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit der deutschen Vereinigung. Dabei wäre es ohne die Zustimmung und aktive Unterstützung Russlands weder zur Überwindung der Spaltung Deutschlands noch zum Abzug der Roten Armee gekommen. Es gibt viele Gründe, sich als Deutsche bei der russländischen Bevölkerung und den russischen Regierungen zu bedanken. Die deutsche Vereinigung ist nur einer davon. Die Befreiung Europas vom Faschismus – das war die Großtat der Roten Armee und der Völker der Sowjetunion. Das bleibt im kollektiven Gedächtnis. Wir sind immer dafür eingetreten, dass es angesichts der sechseinhalb Millionen von Deutschen ermordeten Jüdinnen und Juden ein besonderes deutsch-israelisches Verhältnis geben muss. Angesichts von 27 Millionen ermordeter Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion gilt das allemal auch für das Verhältnis Deutschlands zu Russland. Von deutschem Boden ging der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion aus und diese Barbarei verjährt nicht. Das zu betonen, ist in der deutschen Öffentlichkeit, im Bundestag und auch und gerade hier in Stalingrad sehr wichtig. Doch die deutsche Regierungspolitik verweigert sich den daraus notwendigen Schlussfolgerungen.

Die Bevölkerung will gute Nachbarschaft

In der Bevölkerung sieht es etwas anders aus. In Ostdeutschland gibt es, fußend auf gemeinsamen Erfahrungen zu Zeiten offizieller deutsch-sowjetischer Freundschaft, einen starken Wunsch nach guter Nachbarschaft mit Russland. Westdeutschland hingegen war geprägt von Antikommunismus und Gefühlen starker Ablehnung gegenüber der Sowjetunion. Die haben sich seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts abgeschwächt. Im Ergebnis ist es ein großer Fortschritt, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland Austausch und gute Nachbarschaft mit Russland will. Umgekehrt ist das, soweit ich das weiß, auch so. Gute Nachbarschaft strebt die russische Regierung an, die deutsche leider nicht. Seitens der Regierung und der etablierten Medien wird Russland Kälte, Ablehnung, Respektlosigkeit bis hin zu Diffamierung entgegengebracht. Diese Politik muss beendet werden. Statt Eiszeit brauchen wir Tauwetter.

Der Militärisch-industrielle Komplex

Die Bundeswehr muss sofort aus Litauen von der russischen Westgrenze abgezogen werden und die NATO-Ausdehnung gen Osten sollte rückabgewickelt werden. Sie ist rechts-und vertragswidrig. Sie widerspricht dem Geist und Inhalt der großartigen gesamteuropäischen Charta von Paris aus dem Jahr 1990, dem deutsch-russischen Freundschaftsvertrag aus dem gleichen Jahr und namentlich den Zusagen, die der Sowjetunion im Rahmen der Verhandlungen zum 2 plus 4-Vertrag gegeben worden sind.

Ein riesiges Problem ist das Wiedererstarken des Militärisch-Industriellen Komplexes in Deutschland. Nach unserer Verfassung darf die Bundeswehr nur zur Verteidigung eingesetzt werden. Seit 1992 aber waren mehr als 420 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Ausland militärisch eingesetzt. Und: Deutschland rüstet auf. Allein im Jahr 2019 steigt der Rüstungshaushalt um mehr als 11 Prozent, um dann bis zum Jahr 2024 85 Milliarden Euro[1] zu betragen. Dann wird Deutschland mehr für Rüstung ausgeben als Russland. Das ist doch unfassbar! Russland hatte 2017 seinen Rüstungshaushalt um 20 Prozent gesenkt und für dieses Jahr hatte Präsident Putin weitere Reduzierungen angekündigt, sodass die russischen Ausgaben für Rüstung aktuell um die 60 Milliarden Dollar betragen dürften, in Euro wären das weniger als 55 Milliarden.

Rüstungsausgaben oder: Wer bedroht wen?

Nehmen wir die USA und die NATO dazu, wird das Bild noch krasser. Im laufenden Jahr sind die Militärausgaben der USA auf 690 Milliarden Dollar gestiegen, somit die der NATO auf fast eine Billion, das ist eine eins mit zwölf Nullen (1 000 000 000 000) - vor allem aber ist es angesichts der Kriege, des Hungers, der Krankheiten auf diesem Erdball eine obszöne Summe. Für Militär und Rüstung geben die NATO-Staaten 16 mal so viel aus wie Russland. Das beantwortet zugleich die Frage: Wer bedroht wen?  

Aktuell zeigt die Ankündigung von US-Präsident Trump, aus dem INF-Vertrag auszusteigen, wie gefährdet die Schritte zu Abrüstung sind, die in der Schlussphase des Kalten Krieges noch erzielt werden konnten. Davon übriggeblieben ist – oder müssen wir schon sagen: war? – der INF-Vertrag zwischen der Sowjetunion und den USA zum Verbot von Bau und Besitz landgestützter atomarer Kurz- und Mittelstreckenraketen. Trumps Ankündigung zum Ausstieg ist kreuzgefährlich, denn welchen Wert sollen Dialog, Verhandlungen und internationale Verträge noch haben, wenn ein Partner nach Belieben etwa aus dem INF-Vertrag oder dem Atomabkommen mit dem Iran aussteigen kann. Wenn man sich auf sie nicht mehr verlassen kann, wenn sie nur noch nach Gutdünken gelten, verlieren internationale Verträge ihren Wert, ihren Sinn. Dann bricht sich das Recht des Stärkeren Bahn.

Friedenspartnerschaft mit Russland

Derzeit ist es noch so: Während die NATO und Deutschland bei der Rüstung kräftig zulegen, reduziert Russland seine Rüstungsausgaben. Wir verstehen das auch als ein politisches Signal an den Westen. Auch deshalb ist für die Friedensbewegung Russland ein Partner und kein Gegner. Wer Sicherheit und Abrüstung in Europa will, wer dazu beitragen möchte, dass der Krieg in Syrien endlich beendet wird, kann dies gemeinsam mit Russland leisten, aber nicht gegen Russland. Eine Friedenspartnerschaft mit Russland von deutscher Seite aus zum Fundament der staatlichen Beziehungen zu machen, wäre vernünftig.

Das fordert auch die deutsche Friedensbewegung in einem Aufruf „abrüsten statt aufrüsten“, der von vielen namhaften Künstlern, Wissenschaftlern, Politikern unterschiedlicher Parteien, Aktiven aus gesellschaftlichen Organisationen und derzeit bislang gut 125 000 Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnet worden ist. Zu dessen Zielen gehört (Zitat): „Militärische Aufrüstung stoppen, Spannungen abbauen, gegenseitiges Vertrauen aufbauen, Perspektiven für Entwicklung und soziale Sicherheit schaffen, Entspannungspolitik auch mit Russland, verhandeln und abrüsten.“

Ausschluß aus dem Europäischen Haus?

Die Friedensbewegung fordert von den USA, auf die Errichtung des sogenannten Raketenabwehrsystems in Europa zu verzichten, weil es sich tatsächlich gegen Russland richtet und doppelte Sicherheitsstandards in Europa herstellt. Unterschiedliche Sicherheitsstandards schaffen keine Sicherheit, sondern nur Unsicherheit. Wie es überhaupt der dramatische Fehler der europäischen Politik der letzten 30 Jahre war und leider immer noch ist, Russlands Sicherheitsinteressen nicht zu berücksichtigen und das größte Land der Welt  nicht als Partner und aktiven Gestalter der europäischen Sicherheit einzubeziehen, sondern es quasi aus dem europäischen Haus auszuschließen. Dieses Denken kommt dann auch sozusagen „unten“ an, wenn viele Menschen im Westen beim Begriff „Europa“ ausschließlich an die Europäische Union denken. Gegen diese erneute Spaltung Europas lehnen wir uns auf. Der russische Vorschlag eines gemeinsamen Raumes der Sicherheit vom Atlantik bis zum Pazifik ist als Vorschlag für Frieden und Vernunft gerade in heutigen Zeiten so wichtig. Das ist übrigens nicht nur eine russische Idee. 2015 bekräftigten die Staats- und Regierungschefs der Russischen Föderation, der Ukraine, Frankreichs und Deutschlands in ihrer Erklärung zur Unterstützung von Minsk II, jener Roadmap für einen Frieden in der Ukraine, dass sie sich „unverändert zur Vision eines gemeinsamen humanitären und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik bis zum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränkten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipien der OSZE“ bekennen. Russland und Deutschland sind beides Signatarmächte und somit verpflichtet, in diese Richtung zu wirken.

Von der Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs lernen

Doch die deutsche Seite kommt dieser Verpflichtung nicht nach. Stattdessen macht die Bundesregierung einseitig Russland für die Spannungen innerhalb der Ukraine verantwortlich und fordert vom Kreml ultimativ die Rückgabe der Krim an die Ukraine. Die deutsche und die russische Regierung haben unterschiedlichen Auffassungen zum völkerrechtlichen Status der Krim und dem Charakter der Konflikte in der Ukraine. Die werden sich, wie es aussieht, in absehbarer Zeit nicht einander annähern. Diese Differenzen blockieren eine gutnachbarschaftliche Politik in Europa. Muss es bei Blockade statt Annäherung bleiben? Nicht notwendig. Zu einer vernünftigen Friedenspolitik gehört, Probleme, die derzeitig nicht lösbar erscheinen, ruhen zu lassen und sich pragmatisch den Feldern zuzuwenden, auf denen Friedensfortschritte erreicht werden können. Das ist einer der Punkte, die man heute noch von der Ostpolitik Willy Brandts lernen kann. Damals blockierte die Frage: Wie hältst Du es mit der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR? einen west-östlichen Annäherungsprozess in Europa. Westdeutschland wollte die nicht-Anerkennung und hatte seine Bündnispartner dazu gebracht, ihm gleichzutun, die Staaten des Warschauer Vertrages wollten die Anerkennung der DDR. Willy Brandt und Egon Bahr fanden eine Lösung in der feinen Unterscheidung zwischen Anerkennung und Kenntnisnahme oder Respektierung, meint: Keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR, aber Respektierung ihrer Existenz. Auf diese Art könnte man doch heute mit dem Konflikt um die Krim oder die Ost-Ukraine umgehen.

Russlands Tür für politische Gespräche und Verhandlungen zu Frieden und Sicherheit in Europa steht weit offen. Es bleibt die Aufforderung an die offizielle deutsche Politik, durch offene Türen auch hindurchzugehen. Die Aufgabe der Volksdiplomatie und der Friedensbewegung kann es sein, die Bundesregierung in diese Richtung etwas zu schubsen.

Wolfgang Gehrcke, Christiane Reymann

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[1] Alle aktuellen absoluten Zahlen zu den Ausgaben für Rüstung haben wir auf der Grundlage der Zahlen, die das  schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI für das Jahr 2017 veröffentlicht hat, nach den uns zugänglichen Quellen für das laufende Jahr 2018 selbst errechnet.

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