Abgeordnetenwatch, Thema: Demokratie und Bürgerrechte

19.08.2008
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Abgeordnete sind dazu da, in einer Demokratie die Interessen der Wähler zu vertreten. Nun hat der Brüsseler Bürgermeister Zehntausenden Europäern und auch Tausenden Deutschen, die am 11. September in Brüssel eine Schweigeminute für die Opfer der Terroranschläge des 11. September abhalten, dem EU-Parlament eine Petition übergeben und zugleich gegen die "schleichende Islamisierung Europas" demonstrieren wollten, die freie Meinungsäußerung verboten. Außerhalb Deutschlands melden sich auch Abgeordnete - und finden die Entscheidung des Brüsseler Bürgermeisters und belgischer Gerichte zugunsten des Demonstratrionsverbots je nach politischer Ausrichtung entweder gut oder schlecht. Wie aber stehen deutsche Abgeordnete zum Brüsseler Demonstrationsverbot? Bislang hat sich - nach unserer Kenntnis - noch kein deutscher Abgeordneter zur Einschränkung der Meinungs- und Redefreiheit in der europäischen Hauptstadt geäußert. Zum Hintergrund: Die Brüsseler Demonstration war offen für Menschen aller Hautfarben, nicht politisch ausgerichtet, umfasste Teilnehmer aus 26 EU-Staaten und der Schweiz, Angehörige der Religionsgemeinschaften der Juden, Christen, Atheisten, Hindus, Sikhs, Muslime, Bahai, Buddhisten etc. und wäre die erste multikulturelle Demonstration dieser Größenordnung in Brüssel (mit mehr als 20.000 registrierten Teilnehmern) gewesen. Was halten deutsche Abgeordnete vom Verbot einer Demonstration, die zugunsten des Erhalts europäischer Werte und gegen die Aufgabe von Teilen unserer Kultur stattgefunden hätte?
Würden sie eine solche Entscheidung auch in Deutschland mittragen? Darf man in Europa noch seine Meinung offen kundtun? Und werden deutsche Abgeordnete die Ereignisse im europäischen Parlament thematisieren?

Antwort von Wolfgang Gehrcke:
als Abgeordneter fühle ich mich meinen Wählerinnen und Wählern verpflichtet und an meine Wahlaussagen gebunden. Ich glaube aber zudem, dass ich die Interessen von Mehrheiten in diesem Land vertrete, wenn ich zum Beispiel für den Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan bin oder mich gegen Privatisierungen stemme. Und natürlich verteidige ich das Demonstrations- und Versammlungsrecht. Ob das Verbot der Demonstration in Brüssel gerechtfertigt war oder nicht, kann ich nicht unbedingt beurteilen. Aufgrund der Presseberichte scheint mir aber der Verdacht, dass muslimische AnwohnerInnen provoziert werden sollten, nicht völlig unbegründet. Allerdings kann ich nicht behaupten, dass das die Absicht der Veranstalter war. 

Mit Sicherheit kann ich Ihnen aber sagen, dass eine solche Demonstration nicht meine Unterstützung gefunden hätte, sondern eher eine Gegendemonstration. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass wir in einer Welt, die immer kleiner wird, Toleranz und Respekt brauchen. Von einer „Islamisierung Europas“ zu reden, halte ich für gefährlich und unverantwortlich. Es fördert Fremdenfeindlichkeit und Aggression und ist nützlich für jede rechtsradikale Gruppierung. 

Und bei den zu erhaltenden und zu verteidigenden „europäischen Werten“ würde ich schon gerne nachfragen, welche Sie damit meinen. Kolonialismus? Rücksichtslose Ausbeutung von Menschen und Ressourcen? Faschistische Regimes waren in Europa keine Seltenheit! Und das europäische Grenzregime ist verantwortlich für Tausende Tote jedes Jahr im Mittelmeer und an den anderen Grenzen. All diese „Werte“ haben ein gutes Stück Teil daran, dass sich viele Menschen außerhalb Europas religiösem Fanatismus zuwenden. 

Insofern bin ich ziemlich sicher, dass sich auch die europäischen Abgeordneten der Linken nicht für diese Demonstration begeistern könnten. 

Mit freundlichem Gruß
Wolfgang Gehrcke