Ça ira Nr. 181: DIE LINKE wird gebraucht – DIE LINKE braucht Kritik (26.8.2020)

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In diesem Ça ira müssen wir uns gleich zweimal kritisch mit der LINKEN auseinandersetzen, zum einen mit besorgniserregenden Tendenzen in ihrer Außen- und Friedenspolitik und zum anderen mit dem Verbot, das der Berliner Senat gegenüber den Demonstrationen am kommenden Wochenende ausgesprochen hat. Diese Kritik öffentlich zu äußern, macht uns keinen Spaß, ist aber notwendig, meinen Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann.

 

Die LINKE auf dem Weg nach Godesberg?*

 

Die Vorsitzenden der SPD wollen raus aus der großen Koalition. Das haben sie versprochen, das wäre vernünftig. Die Vorsitzenden der LINKEN wollen offensichtlich raus aus der Opposition. Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt unvernünftig. Die Vorsitzenden der Grünen hüllen sich zu rot-rot-grün in Schweigen. Das ist schlau.

Die SPD stellt sich selbst ein Bein, wenn sie einerseits die Große Koalition loswerden, andererseits deren Politik fortsetzen will. Letzteres wird dominieren. Dafür sprechen ihr Kanzlerkandidat und die Forderung an die LINKE, endlich „regierungsfähig“ zu werden. Darunter verstehen die geballten Mainstreammedien, keine „unrealistischen Forderungen“ mehr zu stellen.

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„Regierungsfähig“ wollte und sollte auch die SPD einmal werden – mittels ihres Godesberger Programms von 1959. Dessen Wende bestand vor allem im JA zur Landesverteidigung inklusive NATO-Mitgliedschaft, zu weltanschaulicher Pluralität statt Bezug auf den Marxismus, JA zu „freiem Wettbewerb und freier Unternehmerinitiative“. Doch welchen Preis zahlte die SPD dafür? Wir können ihn heute als ihr Siechtum beziffern. Und das, obwohl sich Teile des Godesberger Programms im Rückblick wie eine Anleitung einer in der LINKEN beliebten „revolutionärer Realpolitik“ lesen. Das betrifft nicht nur das Ziel eines „demokratischen Sozialismus“, sondern z. B. auch die Forderung nach „Wettbewerb, soweit wie möglich, Planung, soweit wie nötig“ oder jener nach allgemeiner Abrüstung und internationalen Schiedsgerichten. Randnotiz: Im Jahr 2003 hatte der damalige Generalsekretär der SPD und heutige Kanzlerkandidat Olaf Scholz vorgeschlagen, den Begriff „demokratischer Sozialismus“ aus dem Parteiprogramm der SPD zu streichen.

„Regierungsfähigkeit“ macht sich an Schlüsselpositionen fest. Weil die Geschichte von Godesberg nicht vergangen und vergessen ist, registrieren Aktive aus der Friedensbewegung und viele Mitglieder unserer Partei, die Autoren eingeschlossen, sehr aufmerksam, wenn DIE LINKE sich aufmacht, friedenspolitische Grundsätze der Partei zu schleifen – so wie in dem Entwurf eines Leitantrags, der dem Parteivorstand für seine Beratung am 22. August vorliegt oder in öffentlichen Positionierungen leitender LINKEN-Politiker.

Der Entwurf zu einem Leitantrag folgt der Methode Anbiederung durch Weglassen. Getreu der drei Affen: Nicht hören, nicht sehen, nicht riechen gibt es in diesem Entwurf keine NATO, die atomare Teilhabe kommt nicht vor, kollektive Sicherheit ist unbekannt. Demgegenüber ist Dietmar Bartsch im Sonntagsinterview des Deutschlandfunks vom 16. August vielleicht ehrlicher, wenn er ausspricht, welche Positionen er für die „Regierungsfähigkeit“ der LINKEN zu opfern bereit ist. Das ist zuvorderst die Akzeptanz der NATO. Es sei „absurd“, so Bartsch, dass die LINKE den Austritt aus der NATO zur Voraussetzung einer Regierungsbeteiligung machen, „absurd“ auch, dass sie die Auslandseinsätze der Bundeswehr sofort beenden wolle.

„Diese Politik, die im Gegensatz zum Programm der LINKEN steht, darf nicht in die Realität umgesetzt werden. Sie dient nicht dem Frieden und widerspricht den Interessen der Menschen in den Kriegsgebieten und auch in unserem Land,“ heisst es in einem dringenden Appell aus der Friedensbewegung. Wir unterstützen ihn, denn ein zweites Godesberg braucht keiner.

Bedeutet das, dass wir jeglichen Regierungsbeteiligungen der LINKEN eine Absage erteilen? Nein! Nur die Bedingungen müssen stimmen – programmatisch und vom gesellschaftlichen Kräfteverhältnis. Eine (Mitte-)Linksregierung, die nicht bereits im Vorfeld von breitesten gesellschaftlichen Bewegungen getragen und unter Druck gesetzt wird, ist zum Scheitern verurteilt. Das lehrt nicht nur das Godesberg der SPD, sondern lehren auch gescheiterte Linksregierungen in Westeuropa, so in Frankreich, Italien, Norwegen, Griechenland, Spanien. 

*) geschrieben für die „Mitteilungen“ der Kommunistischen Plattform von Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann

 

Auch in Berlin muss gelten:
Freiheit ist immer die Freiheit Andersdenkender

Brief an den Berliner Bürgermeister und Senator für Kultur und Europa, Dr. Klaus Lederer

 

Lieber Klaus Lederer,

Christiane und ich können uns nicht vorstellen, dass das Demonstrationsverbot in Berlin Deine Billigung findet. Gerade wenn man verhindern will, dass sich unter die Menschen, die sich stark machen für die Respektierung demokratische Rechte auch unter den Bedingungen des Infektionsschutzes, auch aus unserer Sicht problematische Richtungen mischen könnten, darf man diese Demonstration nicht verbieten. Im Sinne von der Linken sehr verbundenen Rosa Luxemburg gilt es, die Freiheit der Andersdenkenden zu verteidigen; hierfür gibt es nur eine Grenze, das ist Faschismus. Denn Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. 

Wenn der für das Verbot verantwortliche Innensenator sagt: „Ich bin nicht bereit, ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird“, so drückt er aus: Das Verbot ist nicht eine „Entscheidung für das Leben“, wie er ebenfalls sagt, sondern eindeutig politisch motiviert. Dieses Mal geht es noch gegen „Corona-Leugner“ (wer immer das ist) – das nächste Mal könnte es alle treffen, die andere Maßnahmen der Regierung kritisieren. 

Für eine Antwort wären wir dankbar.

Mit freundlichen Grüßen

Christiane Reymann
Wolfgang Gehrcke 

P.S. Mit einer Mail ähnlichen Inhalts wenden wir uns an die LINKEN-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und an die Bundesgeschäftsstelle resp. die Vorsitzenden der LINKEN.